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Samstag, 30. Oktober 2010

Richard David Precht: Die entfremdete Republik Teil 1

Richard David Precht ist Philosoph und Publizist von populärwissenschaftlichen Büchern über philosophischen Themen. Er hat es geschafft mit seinem Buch "Wer bin ich - und wenn ja wie viele?" philosophische Themen frisch, witzig und für Jedermann verständlich, zu Papier zu bringen und damit einen Bestseller gelandet. Mehr zum Autor unter: http://www.spiegel.de/wikipedia/Richard_David_Precht.html

Sein Buch war einer der ersten Zugänge zur Philosophie für mich. Ich kann es wirklich nur weiterempfehlen, auch für jemanden der sich sonst nicht mit Philosophie beschäftigt. Neuerdings erscheinen Essays von ihm auf Spiegel Online über die gesellschaftliche und politische Situation. Eindrucksvoll geschrieben und leicht verständlich äußert er seine Kritik. Viel Spaß beim Lesen!


Die entfremdete Republik

Bei der Präsidentenwahl geht es um mehr als nur um ein Amt oder eine Person.

Wie die Väter des Grundgesetzes den Bundespräsidenten wählen wollten, das ließen sie im Detail offen. Und das Bundesrecht eröffnete anfangs einen großen Spielraum. Obwohl die Fraktionen Vorschläge machten, konnte im Prinzip jeder in der Bundesversammlung auf einen Zettel schreiben, wen er für den Besten hielt - ob nominiert oder nicht.
Der Idee nach sind Demokratien lebendige Gebilde, sie setzen den Willen der Mehrheit eines Volkes um. Sie sind achtsam und leben vom Interesse einer Bevölkerung am Gemeinwohl. Sie sind, pathetischer formuliert, die politische Entsprechung einer aufgeklärten Ethik seit den Tagen des Aristoteles: die Chance auf ein erfülltes Leben für so viele Menschen wie möglich.
Ist dieses Versprechen in unserem Land repräsentiert? Wer Bundespräsident werden soll, wird spätestens seit 1959 von Parteichefs ausgeklüngelt. Und die erkorenen Mitglieder der Bundesversammlung sollen wählen, was ihnen von den Parteien vorgegeben wird. Eigene spontane Vorschläge während der Wahl sind seitdem nicht mehr erlaubt. Und was Adenauer damals recht war, ist auch Merkel heute billig. Doch die Empörung in der Bevölkerung wächst.
Es geht um mehr als nur um eine Formalität, ein Amt oder eine Person. Es geht ums Ganze. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge findet jeder dritte Deutsche, unsere Demokratie funktioniere nicht gut. Im Osten des Landes meinen dies sogar 61 Prozent. All dies zu Protokoll gegeben noch vor Schwarz-Gelb, vor den Klientelgeschenken an Hoteliers, den Querelen um die Gesundheitspolitik, den Streitereien um eine möglichst harmlose Regulierung der Finanzmärkte und dem instinktlos einseitigen Sparpaket.
Das Zeugnis, das viele Menschen unserer Demokratie ausstellen, ist nicht der Ausdruck eines Stimmungstiefs. Warum auch sollte die Bevölkerung kollektiv an Hormonschwankungen leiden, nur weil der fortwährende Anblick Guido Westerwelles oder Angela Merkels sie deprimiert? Vielmehr ist es die Bescheinigung einer zunehmenden Entfremdung.

Der immer trotzigere Versuch, eine Politik von gestern zu bewahren
 
Dass die parlamentarische Demokratie in unserem Land dem Volk aus historisch schlechter Erfahrung nicht über den Weg traut, ist bekannt: kaum Volksbegehren, keine Direktwahl bei hohen Ämtern, kein imperatives Mandat. Aber während das politische System und sein Personal in diesem Misstrauen verharren, hat sich die Bevölkerung längst gewandelt. Der durchschnittliche Deutsche in den fünfziger Jahren war kein überzeugter Demokrat, aber zufrieden. Heute ist der durchschnittliche Deutsche ein überzeugter Demokrat - und unzufrieden.
Menschen in Deutschland werden heute zu allem gefragt und dürfen sich vieles aussuchen: vom Premiumtarif beim Handy bis zu Bahntarifen - als Kunde lebt jeder Deutsche in der Illusion von Teilhabe oder Mitbestimmung. Im Internet darf er den gekauften Fotoapparat genauso bewerten wie den Einsatz in Afghanistan. Und im Chat kann er sich über eine Freundin aufregen wie über Angela Merkel. Doch das Erfolgserlebnis, das er bei der Abstimmung zum Eurovision Song Contest hat, wird ihm bei der Wahl des Bundespräsidenten verwehrt. Lena dürfen wir wählen, aber nicht Gauck oder Wulff.
Die Entfremdung der Politiker von den Bürgern ist mehr als nur eine Frage von verweigerter Mitbestimmung. Sie ist auch der immer trotzigere Versuch, eine Politik von gestern zu bewahren, in der Form und im Inhalt. Ihren stärksten Ausdruck findet sie in der Ideologie des Wachstums, die glauben machen möchte, dass wir weiterhin die Umwelt zerstören und Ressourcen aufbrauchen müssen, um noch mehr Konsumgüter zu erzeugen. Tatsächlich fördert das Wirtschaftswachstum schon lange nicht mehr den Wohlstand, sondern es ruiniert ihn. Jede neue Autobahn erhöht die Lärmentwicklung, jedes neue Einkaufscenter enteignet den Mittelstand, und die Abwrackprämie bezahlen der Steuerzahler und die Umwelt.

Wie ein Dinosaurier torkelt der Staat seinem evolutionären Ende entgegen
 
Wie ist eine solche Unverantwortlichkeit der Politiker erklärbar? Warum steuern sie nicht gegen, wenn die mit Wachstumshormonen gedopte Gesellschaft mit Volldampf nach Absurdistan fährt? Weil niemand dafür zuständig ist. Die Gesamtrichtung zu bestimmen und zu verändern ist nicht die Aufgabe von Ministern. Die Nöte und Notwendigkeiten der Ressorts folgen festgelegten Verfahren. Wenn alle in die falsche Richtung laufen, irritiert der Mahner als Geisterfahrer.
Wie ein Dinosaurier torkelt der Staat seinem evolutionären Ende entgegen. Den baldigen Meteoriteneinschlag ahnt er, aber er hat ihm nichts entgegenzusetzen: nicht der Schuldenexplosion, der er mit Schönheitskosmetik begegnet, nicht der immer größeren Kluft zwischen Arm und Reich, nicht der Versteppung der Kommunen, nicht der psychischen Umweltverschmutzung durch die Werbung, ganz zu schweigen von den Gefahren des Klimawandels. Die ökologische, monetäre und soziale Kreidezeit nimmt er als gegeben hin.
In solcher Lage fehlt der Politik auch der Wille, etwas zu ändern. Das politische Führungspersonal unterscheidet sich kaum von den Bankern der Konkurswirtschaft, die noch mitnahmen, was sie kriegen konnten: ein paar letzte Privilegien, ein bisschen Machtgefühl, ein paar Versorgungsansprüche.
Das soziologische Problem der politischen Führungselite ist der Mangel an Selbstbeobachtung. Systeme werden fragil, wenn sie es nicht mehr schaffen, sich selbst mit anderen Augen zu sehen. Selbstblindheit verhindert nicht nur Innovation, sie verleitet auch dazu, den Ernst der Lage zu verkennen: in Weimar 1933 nicht anders als 1989 in Ost-Berlin.
Dazu kommt, dass auch die vermeintlichen Wächter unserer Demokratie, die Massenmedien, ihrer Funktion kaum gerecht werden. Die Nachrichtensendungen und Polit-Magazine behandeln Politik längst als Yellow-Press-Thema: wer mit wem, warum und warum nicht - ein nur mäßig interessantes Unterhaltungsprogramm mit wenig attraktiven Darstellern.


Donnerstag, 21. Oktober 2010

Politik mal lustig mit Volker Pispers

Einer meiner absoluten lieblings Kabarettisten. Politisches Kabarett wird nur spät Abends ausgestrahlt (sollte man da Absicht unterstellen?), jedoch gibt es ja heutzutage Youtube. Volker Pispers bringt es mal wieder absolut und allgemeinverständlich auf den Punkt.


 Auch wenn die Situation eher zum heulen ist, als zum lachen, ist Humor doch ein Zugang zu Politik, gerade für Menschen die Politik uninteressant finden oder die komplexen Sachverhalte nicht auf Anhieb verstehen.
Wem so etwas gefällt, für den kann ich in diesem Moment nur Werbung für folgende Sendungen machen:

Neues aus der Anstalt, monatlich Dienstags 22:15 auf dem ZDF
Mitternachtsspitzen, monatlich Samstags 21:45 auf dem WDR
extra3, Sonntags 22:45 auf dem NDR

Natürlich kann man sich auch einfach ein paar Videos von Volker Pispers oder Georg Schramm auf Youtube ansehen. Auch zu den einzelnen Sendungen gibt es Videos. In dem Sinne viel Spaß beim schauen, das nächste mal wird es wieder ernster.

Sonntag, 10. Oktober 2010

Sarrazin als Mr. Bean und das Oktoberfest

Eigentlich wollte ich nicht mehr auf Sarrazin herumreiten. Allerdings muss ich diesen Artikel aus der Jungen Welt von Klaus Bittermann trotzdem noch einmal hier veröffentlichen.


Wenn alle nicken

Der deutsche Mr. Bean und die Migranten. Weitere Bemerkungen zu Thilo Sarrazin

Arbeitet unermüdlich an der Steigerung der Fertilitäts
Thilo Sarrazin ist ein lustiger Mann, er sieht lustig aus und sagt lustige Dinge. Dabei wirkt er immer ein wenig tapsig, unbeholfen und linkisch, eine Art deutscher Mr. Bean, und mit seiner Faschingsmaske, die er nie abnimmt, mit dem komischen Bürstenschnurrbart und dem komischen Brillengestell, hat er alles, was er für seine Büttenreden braucht, aber vor allem ist er ein gutes Beispiel dafür, wie weltoffen und lustig es in Deutschland immer noch zugeht, obwohl die Weltmeisterschaft in dem seit neuestem »Schland« genannten Land schon vier Jahre zurückliegt.

Er sagt so lustige Sachen wie, daß Intelligenz zu 50 bis 80 Prozent erblich sei. Welche Intelligenz? Sarrazin meint die Intelligenz der Leute, die ihm zustimmen und die daran glauben, daß es sich bei Homosexualität um etwas Perverses handelt. Selbstverständlich ist alles wissenschaftlich belegt, behauptet Sarrazin. Er hat da was bei der Psychologin Elsbeth Stern gelesen, weshalb alles »unbestreitbar« ist. Die lebt in Zürich, hat also nicht mitbekommen, wie lustig Sarrazin ist, und sagt deshalb bierernst: Sarrazin zeigt mit dieser Behauptung, »daß er Grundlegendes über Erblichkeit und Intelligenz nicht verstanden hat«. Sarrazin wäre nicht so lustig, wenn er sich davon beeindrucken ließe und so antwortet er, daß er es trotzdem gelesen hätte und es deshalb »unbestreitbar« sei. Im übrigen hätte auch Henryk Broder ihm »Unterlagen« gegeben, in denen seine Thesen bestätigt werden, daß »alle Juden ein bestimmtes Gen teilen«, aber die hat er noch nicht lesen können, weil er gerade so viel zu tun hat. Später, als sich alle aufregen über das »unstrittige« Judengen, sagt Sarrazin, daß er auch irgendeine andere Volksgruppe hätte nehmen können, dann hätte sich niemand aufgeregt. Das mit dem Judengen würde er dann halt zurücknehmen, sonst aber nichts. Zur Untermauerung seiner Thesen hantiert Sarrazin gern mit Statistiken, weil die der Superlativ von Lügen sind und weil sich aus der Welt der Statistik stundenlang lustige Dinge erzählen lassen, wie z.B. daß »die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa darstellt.« Kein Wunder bei einer »Fertilitätsrate von 1,4«.

Fertilitätsrate? Alle nicken begeistert. Wir werden bedroht, weil wir nur so eine kleine Fertilitätsrate haben und die Muslime so eine große. Da stellt sich ein gewisser Neid ein auf die muslimische Fertilitätsrate, denn durch die Fertilitätsrate wird es in nur wenigen Generationen so sein, daß »Staat und Gesellschaft von den Migranten übernommen werden«, die offenbar so was Ähnliches sind wie die Muslime. Die Deutschen müssen also an ihrer Fertilitätsrate arbeiten, denn ohne Fertilitätsrate geht heute gar nichts mehr, da wird man dann sogar »fremd im eigenen Land«, und das in nur wenigen Generationen. Aber wie neue Statistiken aus dem Bundesamt für Statistik ergeben haben, fühlen sich die Deutschen schon immer fremd im eigenen Land, und erstaunlicherweise am meisten dort, wo der Migrantenanteil am niedrigsten ist. Langzeitstudien zeigen, daß die Deutschen es mit sich selbst nicht aushalten und deshalb jede Gelegenheit nutzen, um ins Ausland zu fahren. In keinem anderen Land wird dafür so viel Geld ausgegeben wie in Deutschland, obwohl die Deutschen gar kein Geld dafür haben.

Aber wie, grübeln die Deutschen, kriegen wir die verdammte Fertilitätsrate höher? Und wozu ist das dann überhaupt gut? Wenn nämlich diese Fertilitätsrate aus welchen Gründen auch immer plötzlich in die Höhe schnellte und sagen wir mal bei 3,15 landen würde, dann würde Deutschland in nur wenigen Generationen aus allen Nähten platzen und die Deutschen müßten sich woanders Lebensraum erobern, was aber kein Problem wäre, denn da wissen die Deutschen Bescheid, wie das geht.

Sarrazin sagt aber noch viele andere lustige Dinge, z.B.: »Ich betrachte unser Land aus der Perspektive eines verantwortungsvollen Staatenlenkers.« Jedenfalls macht er sich Sorgen um Deutschland, und da herrscht große Einigkeit unter den Deutschen. So viel Sorge um Deutschland war noch nie. Die taz sorgt sich um das Ansehen Deutschlands im Ausland, Necla Kelec teilt wenig originell einfach »Sarrazins Sorge um Deutschland« und Peter Hahne macht das ja sowieso immer, schon aus rein professionellen Gründen, denn er muß sich ja jeden Sonntag »Gedanken am Sonntag« machen. Lustiger als Sarrazin ist vielleicht höchstens noch Henryk Broder, der den Fall Sarrazin für den »ersten Fall einer Hexenjagd in Deutschland seit Mitte des 17. Jahrhunderts« hält. Tatsächlich wäre es der erste Fall, bei dem die Hexe nicht verbrannt, ja nicht einmal einer peinlichen Befragung mit Daumenschrauben und sowas ausgesetzt worden ist. Auch interessant die Feststellung Broders, Vererbung, Identität und Gene seien irgendwie alles das gleiche, was ich jetzt nicht gedacht hätte, aber daran sieht man, daß Deutschland schon ein lustiges Land ist, in dem es Kabarettisten richtig schwer haben, denn das alles zu toppen, das muß man erst mal schaffen.
 
 
Außerdem noch ein Artikel von Colin Goldner, der schön die absurdität unseres größten Volksfestes beschreibt.

Arsch an Arsch

Mir ist speiübel, also bin ich. Heute beginnt das Münchner Oktoberfest

Kaum etwas ist mir so abgrundtief zuwider wie das Münchner Oktoberfest. Obwohl ich nie hingehe. Mir reichen schon die Heerscharen an Trachten- und Lederhosenträgern, die plötzlich die U-Bahnen verstopfen und in ihr Handy plärren, daß sie gerade in einer verstopften U-Bahn sind und »auf d’Wiesn« wollen. Oder all die Dirndl- und Rüscherlgewandträgerinnen, die einem ungewollte Einblicke aufnötigen in ihren überquellenden Vorbau, den sie zur Wiesnzeit präsentieren wie überzüchtete Milchkühe ihr Euter. Und dabei dreinschauen wie Paris Hilton beim Pieseln, und das auch noch für pralle Erotik halten.

Ja, ich hasse München, wenn Wiesn ist. Ich hasse es, wenn ich morgens das Radio aufdrehe, und es scheppert mir einer dieser brunzblöden Wiesnhits entgegen, die dieser Vollpfosten mit Strickmütze regelmäßig verbricht. Oder eine Aufzählung irgendwelcher Promis, von denen ich nicht einmal den Namen kenne, geschweige denn das dazugehörige Gesicht oder die herausragende Leistung, deretwegen dauernd von ihnen die Rede sein muß. Meine Güte, der Lothar war im Käfer-Zelt, oder der Olli und sie haben eine Lederhose angehabt und Prosecco getrunken. Oder die Verona, die Giulia oder sonst eine von den zahllosen Dummnüssen, die in irgendeiner Vorabendserie von Pro7 eine Statistenrolle gehabt haben oder im Dschungelcamp waren und sich jetzt als »Stars« vorkommen; oder, schlimmer noch, einen Fußballer geheiratet haben und jetzt mit dem Promistatus »Spielerfrau« herumrennen.

Oder wenn ich abends den Fernseher anmache und auf allen Kanälen sind diese unerträglichen »Bayernreporter« zu sehen, die vor irgendwelchen Festzelten herumhängen und einen derartigen Bockmist verzapfen, daß eigentlich die Lichter ausgehen müßten. Tun sie aber nicht, weil der Bayerische Rundfunk diesen steinerweichenden Blödsinn für besonders bayerisch oder urig oder fremdenverkehrsförderlich hält, weshalb es ihn sechzehn Tage am Stück gibt. Welch eine Zumutung, diesen Hirschlederjankerzombies auch nur zwei Minuten zuhören zu müssen. Ich möchte da immer im Boden versinken vor Scham, selbst gebürtiger Münchner zu sein und früher einmal, als Bub, gerne auf die Wiesn gegangen zu sein.

Heute wird mir schon schlecht, wenn ich bloß daran denke, wieviele zigtausend, was sage ich, Millionen Schweinshaxn, Brathendl und Steckerlfische wieder einmal gefressen werden. Allein hundert Ochsen, die in den zwei Wochen am Spieß der Ochsenbraterei landen, ein widerwärtiges Schauspiel jedesmal, wenn der Spieß vorne hineingerammt wird und hinten wieder herauskommt. Der Marquis de Sade läßt schön grüßen.

Wiesnfeeling. Der fetttriefende Dunst in den Zelten, der beißende Qualm der Zigarren – ach was: Rauchverbot –, der würgende Gestank des Gekotzten in jeder Ecke. Krachende Blechmusik, die im Schädel dröhnt wie ein Hammer: Oans, zwoa, gsuffa. No a Maß und no oans, dazwischen ein Schaschlik, eine Fischsemmel, ein Türkischer Honig: Ois werd’ obigschwoabt. Dann, bei der nächsten Maß, die Gipfelerfahrung: Mir ist speiübel, also bin ich. Aber nicht nur die Sinne kommen ans Rasen, auch Gefühl quillt empor, das Gefühl, dabeizusein, dazuzugehören, die Verbundenheit zu spüren mit den Tausenden, dem Volk, eng aneinandergepreßt auf der Holzbank, Arsch an Arsch. Das Mitwogen in der Masse der Vielen, das Gleichwerden unter Gleichen, berauschend sich loslassend, das Ahnen bacchantischen Taumels. Oder einmal im Jahr sein, wer man wirklich ist. Mit einem saublöden Hut auf dem Kopf die innere Sau herauslassen und hemmungslos saufen, rülpsen und unter den Tisch pissen.

Volksfest? Daß ich nicht lache. Die Wiesn ist ein gigantisches Abzockunternehmen. Bei 1,4 Milliarden Euro soll der Wirtschaftswert dieses »größten Volksfestes der Welt« liegen. Weit über 5 Millionen Maß werden jedes Jahr gesoffen, all die dazu gekippten Obstler und Schnäpse gar nicht mitgerechnet, bei diesen Chaostagen der internationalen Bierdimpflszene. Für die bayerische Staatsregierung ist das Oktoberfest freilich Ausdruck der Liberalitas Bavariae, über eine Million Alkoholabhängiger allein im Freistaat hin oder her. Alle Macht den Drogen.

Da hilft es wenig, wenn SPD-Stadträtin Barbara Scheuble-Schäfer, selbst dem Biere nicht abgeneigt, der Wiesn eklatante Frauenfeinlichkeit attestiert. Sie meint nämlich nicht die sexistische Anmache, der die Besucherinnen flächendeckend von Horden angesoffener Lederhosengockel ausgesetzt sind. Sondern den Umstand, daß es auf der Wiesn viel zu wenige Damentoiletten gibt. Oft muß frau eine halbe Stunde und länger anstehen, bis sie endlich drankommt. Wohingegen es für die Männer immer schon 785 laufende Meter blecherne Pißrinnen gab, ganz abgesehen davon, daß sie, anatomisch bevorteilt, sowieso an jeden Busch unterhalb der Bavaria hinbrunzen können. Und das auch tun, sofern sie sich, stockbesoffen, nicht in die eigene Hose schiffen. Nach langem Ringen im Stadtrat wurde die Zahl der Frauentoiletten auf gut 700 angehoben. An den endlosen Warteschlangen vor den Häusln ändert das allerdings nichts. Viele Frauen entfliehen dem Lärm der Festzelte, um auf dem »stillen Örtchen« ihre dringendst notwendigen Handytelefonate zu erledigen und irgendjemandem mitzuteilen, dass sie gerade auf der Wiesn sind und wie super und einmalig es heuer wieder ist. Prost Mahlzeit.

Sonntag, 3. Oktober 2010

Sarrazins Staat

Ich werde das Konzept des Blogs ein wenig ändern. Da es schwer ist, eigene Texte über Dinge zu schreiben, die noch nicht geschrieben wurden, werde ich in Zukunft auch Artikel aus Zeitungen oder dem Netz hier einstellen. Nicht jeder liest alle Zeitungen oder schaut auf jeder Website vorbei.

Anfangen möchte ich mit einem Artikel aus der Jungen Welt von Arnold Schölzel:

Sarrazins Staat

Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel schreibt in der Zeit über Thilo Sarrazins Buch: "Es geht darin im Kern gar nicht um Integration. Es ist ein Buch über "oben" und "unten" in unserer Gesellschaft und darüber, warum es nicht nur gerecht, sondern auch aus biologischen Gründen völlig normal ist, dass es dieses "Oben" und "Unten" gibt." Gabriel weiter: "Für Sarrazin beruht die Schichtung einer Gesellschaft somit ganz überwiegend auf natürlicher biologischer Auslese, Einflussfaktoren wie Einkommensverhältnisse, Bildung, Sozialstatus, kulturelle Prägung, Integration oder Desintegration in den Arbeitsmarkt sind für ihn zu vernachlässigende Restgrößen. Der Erfolg oder Misserfolg einer Gesellschaft ist für Sarrazin deshalb vor allem davon abhängig, dass die "richtigen" Menschen viele Kinder beokmmen, um ihre Intelligenz zu vererben. Und die anderen weniger."

Sarrazin verlangt demnach nichts Besonderes, höchstens etwas mehr Konsequenz bei der Vollstreckung dessen, was hierzulande Gesetz ist -  vom Blut-und-Boden-Artikel des Grundgesetzes zur Staatsbürgerschaft ("deutsche Volkszugehörigkeit") angefangen bis zu Hartz IV. Wer so etwas einführt (98,5% Zustimmung im Bundestag), weiß natürlich, dass er soziale Selektion betreibt. Man kann im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar dazu nachlesen: Hier wurde gezielt ein Gesetz geschaffen, das es Armen schwerer macht, Kinder zu haben. Und selbstverständlich gibt es längst das sozialpolitische Gegenstück dazu: Das "Elterngeld" -  von Union und SPD -  auf den Weg gebracht, genügt formal dem Gleichheitsgrundsatz herkömmlicher bürgerlicher Gesetzgebung. Tatsächlich fördert es per Orientierung am Nettoeinkommen der Eltern, dass vor allem die "richtigen" Kinder bekommen. Der Sarrazin-Staat ist mit sozialdemokratischer Hilfe insofern längst da: Disziplinierung der Deklassierten durch Schikane und Zwang kombiniert mit sozialer Zuchtwahl. Nun wundert sich Gabriel darüber, dass Sarrazins Rückgriff auf die Eugenik "in unserem Land gar nicht mehr auffällt". Verwunderlich ist lediglich, dass die eugenischen Komponenten der Sozialgesetzgebung seiner und aller anderen etablierten Bundestagsparteien dem heutigen SPD-Vorsitzenden nie aufgefallen sein sollen.

Die sogenannte Familienminisiterin Kristiana Schröder (CDU), deren Amtsbezeichnung Ministerin für besserverdienende Familien lauten müsste, hat den Wegfall des Elterngeldes für Langzeitarbeitslose am Donnerstag im Bundestag ganz im Sinne Sarrazins und der Hartz-Gesetze verteidigt. Sie erklärte, diese Zahlung an Hart-IV-Empfänger sei "von Anfang an nicht richtig" gewesen. Für Hartz-IV-Empfänger gebe es zusätzliche Hilfe, wenn sie Kinder bekämen -  unter anderem eine Erstausstattung fürs Kind und einen Mehrbedarfszuschlag. Komme noch zusätzliches Elterngeld hinzu, könne dies "auch eine negative Wirkung entfalten". Wer arbeiten gehe, müsse mehr haben, als derjenige, der nicht arbeite. Großer Protest wurde nicht vernommen. Die Sarrazinschen Selektionsverfahren sind für die Parlamentsmehrheit blanke Gewohnheit: Wer mit Hartz IV lebt, soll gefälligst keine Blagen in die Welt setzen.

Mit "Unten" und "Oben" in der Gesellschaft hat das aber nichts zu tun. Das gibt es hierzulande nicht. Ebenfalls in der Zeit erläutert Bundesinnnenminister Thomas de Maizière, warum: "Die Niederlande wie Großbritannien und Frankreich sind doch immer noch von ihrer kolonialistischen Vergangenheit geprägt. Das führt dazu, dass eine bestimmte Form von überkommenem Ober- und Unterordnungsverhältnis in der Gesellschaft verankert ist. Das hat es bei uns so nie gegeben." So klärt sich, warum die Ansprüche von Hereros wegen der an ihnen verübten deutschen Greueltaten hinfällig sind und die vom Führer, seinen Beamten und Wissenschaftlern nach Osteuropa gelenkte deutsche Kolonisation in 60 Jahren Bundesrepublik keine besondere Rolle spielte. Es gab da nichts, und wenn ja, erledigt das Erika Steinbach. Was es gibt, sind nur einige, die so fit im Oberstübchen sind wie Gabriel, Schröder oder de Maizière. Die sind deswegen ein bisschen obener.